Ein Beitrag von Dr. Paul Weßels
Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 begann im Zweiten Weltkrieg ein unvorstellbares Sterben. Insgesamt sind zwischen 1939 und 1945 etwa 60 Millionen Menschen ums Leben gekommen. Mehr als sechs Millionen Juden wurden von den Deutschen bei Massenerschießungen oder in Konzentrationslagern ermordet. Etwa 28 Millionen Soldaten und Zivilisten aus der früheren Sowjetunion kamen ums Leben. Aber auch etwa sechs Millionen Deutsche haben diesen von den Nationalsozialisten begonnenen Krieg nicht überlebt. Ostfriesland – im nordwestlichsten Zipfel Deutschlands gelegen – wurde erst in den allerletzten Kriegswochen Schauplatz von Bodengefechten. Bis dahin hatten insbesondere Emden und Wilhelmshaven unter zerstörerischen Luftangriffen gelitten. Obwohl der Krieg längst verloren war, erforderten die Rückzugsgefechte der deutschen Wehrmacht noch viele sinnlose militärische und zivile Opfer. Bei einem britischen Luftangriff auf die Marinekaserne in Leer am 19. April 1945 kamen wahrscheinlich 340 bis 400 Zivilistinnen und Zivilisten, Marinehelferinnen und junge Soldaten ums Leben.1

Dieser Beitrag widmet sich den Opfern des Kriegsendes in Holtland und Brinkum. Seit Jahren war es ein Anliegen der Kirchengemeinde, die vier toten Soldaten auf dem Holtlander Kirchhof, die alle Ende April und Anfang Mai 1945 ums Leben gekommen oder ermordet worden sind, aus der Anonymität zu holen und ihre Geschichten zu erzählen. Dazu gehört auch eine Beschreibung der Situation in Holtland in den letzten Kriegstagen. Zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs wird dieses Vorhaben umgesetzt. Die Kirchengemeinde errichtet am Grab auf dem Holtlander Kirchhof eine Erinnerungstafel. Eine gekürzte Fassung dieses Textes wird auf ihrer Website veröffentlicht.
Die Situation im südlichen Ostfriesland und in Holtland und Brinkum während der zweiten Aprilhälfte 1945
Beim Einmarsch der alliierten Truppen aus den Niederlanden in den nordwestdeutschen Raum im Frühjahr 1945 verfügten deren Einheiten über Menschen und Material im Überfluss und besaßen auch die Lufthoheit über Ostfriesland. Zwischen Weser und Ems wichen etwa 70.000 Wehrmachtssoldaten wie durch einen Flaschenhals vor der heranrückenden Front nach Norden zurück. Bei Tieffliegerangriffen, die den Vormarsch der Alliierten nach Wilhelmshaven vorbereiten sollten, kam am 26. April 1945 der auf dem Holtlander Kirchhof bestattete deutsche Wehrmachtssoldat Peter Schomaker am Hasselter Vorwerk nördlich von Holtland ums Leben.2

Leer wurde am 28. April 1945 von kanadischen und polnischen Truppen eingenommen.3 Am 30. April zog sich das deutsche Bataillon 361 von Logabirum über Brinkum nach Holtland zurück,4 und am gleichen Tag stieß die 10. Polnische Brigade der 3. Canadian Division von Leer in Richtung Nordosten vor. Bei dem deutschen Rückzug wurde der Wehrmachtssoldat Wilhelm Nicolai am 30. April 1945 bei Brinkum erschossen.2
Am 1. Mai konnten die polnischen Truppen Potshausen und Stickhausen einnehmen, und zeitgleich kamen polnische Panzer als Vorhut von Logabirum über die Gastenäcker von Brinkum nach Holtland. Bei diesem Angriff wurde der polnische Soldat Karol Dworak getötet. Er nahm unter dem Pseudonym Karol Gorecki am Feldzug teil. Geboren wurde er am 7. Mai 1906 in Chorzow, bestattet wurde er auf dem Kirchhof in Nortmoor.5

Der Durchmarsch der polnisch-kanadischen Einheiten durch Brinkum und Holtland ging sehr schnell vonstatten. Die alliierten Truppen erreichten noch am Vormittag des 1. Mai 1945 die Heseler Fabrik. Von der Kreuzung in Hesel aus drangen Panzerfahrzeuge sowohl in Richtung Aurich als auch gleichzeitig nach Nordwesten nach Stikelkamperfehn und nach Osten nach Remels / Uplengen vor und konnten noch am gleichen Tag Remels und Neudorf einnehmen.
Der Waffenstillstand für Nordwestdeutschland, die Niederlande, Dänemark und Norwegen wurde am 4. Mai 1945 in Lüneburg unterzeichnet und trat am 5. Mai 1945 morgens um 8:00 Uhr in Kraft. Damit wurden die Kampfhandlungen im nordwestdeutschen Küstenraum eingestellt.6
In den letzten Kriegswochen herrschte eine sehr unübersichtliche Situation in Holtland, die von Angst vor den alliierten Soldaten, aber auch vor deutschem Terror geprägt war. Die Dörfer nördlich von Leer und Potshausen waren spätestens etwa seit dem 20. April Rück- und Durchzugsgebiet für einen schwer zu kontrollierenden Strom von Menschen. Darunter waren versprengte Soldaten, die ihre Einheiten verloren, Deserteure, die sich bewusst abgesetzt hatten und Zivilpersonen, die sich z. B. als bekannte Parteigänger des Nationalsozialismus vor den alliierten Soldaten fürchteten. Heeresstreifen suchten gezielt nach Deserteuren.

Oberst Gericke und Generalmajor Lindner in Holtland
In dieser Phase hielten sich auch zwei ranghohe Wehrmachtsoffiziere mit ihren Resttruppen für einige Tage in Holtland auf. Noch im März 1945 hatte man auf deutscher Seite versucht, eine Fallschirmjäger-Division neu zu formieren. Kurzfristig aufgestellte Verbände wurden als „Fallschirmbrigade Gericke“ im Rahmen der 21. Fallschirmjägerdivision zum Einsatz gebracht.7 Ihren Namen trug die Brigade nach ihrem Kommandeur Walter Gericke (1907–1991), der als Wehrmachtsoffizier und Fallschirmjäger während des Kriegs u. a. auf Kreta, an der Ostfront und in Italien eingesetzt gewesen war. Seit Anfang 1945 war Gericke als Oberstleutnant in Nordholland, wo er Kommandeur der neu aufgestellten 21. Fallschirmjägerdivision wurde.8

Am 15. April 1945 wurden alle im Küstenverteidigungsabschnitt Emden eingesetzten Verbände dem Stab Oberst Walter Gerickes unterstellt. Er erhielt den Auftrag, mit seinen Soldaten den Abschnitt von Leer über die Ems bis Papenburg und den Küstenkanal bis nach Friesoythe zu verteidigen.9 Als die Erste Polnische Panzerdivision über Papenburg bis auf Potshausen vorstieß, zog sich Gericke mit seinem Gefechtsstand der „Kampfgruppe Gericke“ am 21. April von Backemoor und Breinermoor nach Holtland zurück.10 Sein Quartier hatte Gericke dort in der Gastwirtschaft König bezogen. Der Divisionsstab war in der Gaststätte Böden eingerichtet worden. Überall im Dorf waren in den Bauernhöfen deutsche Soldaten untergebracht. Zur Abwehr des zu erwartenden Vormarschs der polnischen und kanadischen Truppen waren im Bereich der Hauptstraße verschiedene Luftabwehrstellungen eingerichtet worden, und im Dorf und auf den Gastenäckern in Richtung Brinkum und Nortmoor hatte man schwere MGs und Panzerabwehrkanonen postiert.
Die deutschen Soldaten der Einheit von Oberst Gericke setzten sich noch rechtzeitig vor dem Einmarsch der polnischen und kanadischen Truppen aus Holtland ab und beschlagnahmten zu diesem Zweck unter anderem einen PKW vom Landmaschinenhändler Nanninga und einen zweiten vom Schmied de Buhr.11
Zusätzlich zur Kampfgruppe Gericke war in den letzten Kriegstagen nach Zeitzeugenberichten mit dem „Sonderbataillon Emsland“ auch eine Einheit in den Raum Holtland und Hesel gekommen, die unter dem Befehl von Generalmajor Gerhard Lindner (1896–1982) stand. Dieser war nach dem Einsatz an verschiedenen Fronten des Zweiten Weltkriegs im Mai 1944 der Heeresgruppe H in den Niederlanden zugeteilt worden und dort zuletzt Kommandeur der 346. Infanterie-Division.12 Kurz bevor er nach Holtland kam, war er am 20. April 1945 zum Generalmajor ernannt worden. Am 5. Mai, dem ersten Tag der Kapitulation der Truppen an der Nordsee, wurde Gerhard Lindner noch mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet.
Auch Gerhard Lindner setzte sich am 30. April 1945 mit seinen Männern rechtzeitig vor dem polnisch-kanadischen Angriff in Richtung Aurich ab. Seine Soldaten beschlagnahmten unter Drohungen und Zwang Fahrräder von den dörflichen Bauern und Handwerkern, um damit weiter nach Norden zu fliehen.13
Durchmarsch der alliierten Truppen und Kriegsopfer in Holtland
Holtland und Hesel wurden am 1. Mai und damit kurz vor dem Ende der Kampfhandlungen im Nordwesten vollständig eingenommen. Das Dorf blieb aber noch einige Stunden in der Kampfzone, weil einerseits die polnischen Einheiten von Holtland aus die deutschen Stellungen in Hesel und Siebestock ins Visier nahmen und die zurückweichenden deutschen Truppen andererseits Holtland von Norden aus beschossen.
Im Süden des Dorfes waren einige Bauernhöfe längs der Gastenäcker durch Beschuss in Brand geraten. Danach rückten die polnischen Einheiten ohne größeren Widerstand in Holtland ein. Auf dem Vormarsch in Richtung Hesel und Siebestock kam es anschließend am Hasselter Heuweg nördlich des Dorfs zu Kämpfen bei einem deutschen Hinterhalt, bei denen der erst siebzehnjährige Marinesoldat Horst Heinicke umkam.14 An der Siebestocker Straße wurde ein russischer Zwangsarbeiter erschossen, der von der Forstverwaltung Kloster Barthe kam und einen Sanitäter aufsuchen wollte.15
Der Botenfahrer Wübbo Wemjes wurde auf dem Weg von seinem Haus zum Bunker von deutschen Soldaten beschossen und erlitt einen Durchschuss im Bein. Heinrich Knipper wurde in den Weiden zwischen seinem Haus und dem Dorf erschossen aufgefunden. Auf dem Mühlenweg wurde ein Mädchen aus Leer, das bei Bauer Weelborg untergebracht war, durch einen Granatsplitter tödlich verletzt, als sie auf dem Weg zum Bunker war.16

Soldatengräber auf dem Holtlander Kirchhof
In Holtland sind bei den Kämpfen zum Kriegsende im April und Mai 1945 neben den zivilen Opfern, dem russischen Kriegsgefangenen und dem in Nortmoor begrabenen polnischen Soldaten vier junge deutsche Soldaten in den Kämpfen bzw. durch eine Exekution ums Leben gekommen und auf dem Kirchhof beigesetzt worden. Im Folgenden wird zusammengetragen, was über das Leben und die Umstände des Todes von Peter Heinrich Schomaker, Wilhelm Nicolai und Horst Heinicke in Erfahrung zu bringen war.
Peter Heinrich Schomaker
Der Bauernsohn Peter Schomaker wurde am 6. Januar 1916 in Hammahermoor bei Stade im Haus seiner Eltern, Heinrich Schomaker und Maria Schomaker, geboren. Peter Schomaker war Unteroffizier im 3. Flak-Regiment 26 und hielt sich Ende April 1945 bei dem Stab seines Regiments auf,17) das sich im Hasselter Vorwerk zwischen Holtland und Kloster Barthe bei Familie Janssen einquartiert hatte. Am 26. April 1945 gab es nach Auskunft eines Zeitzeugen einen gezielten Granatenbeschuss auf den Bauernhof, als der zweifellos in landwirtschaftlichen Arbeiten erfahrene Peter Schomaker mit zwei Frauen der Familie Janssen zur Weide auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging, um die Kühe zu melken. Die Granaten schlugen überwiegend auf der Weide ein, und die meisten Kühe wurden tödlich getroffen. Die beiden Frauen verbargen sich hinter den Tierkadavern. Peter Schomaker wurde aber von einem Granatsplitter die Brust aufgerissen. Er verstarb unmittelbar nach dem Angriff.18
Wilhelm Nicolai
Der Unteroffizier bzw. Oberwachtmeister Wilhelm Nicolai wurde am 27. Oktober 1916 in Lowinek in Polen geboren. Er war mit Lucie Nicolai, geborene Fischer, aus Brandenburg verheiratet und von Beruf Bäcker. Wilhelm Nicolai diente in der 5. Reserve Flak-Abteilung 322.19 1943 erlitt er Platzpatronen-Verletzungen am rechten Zeigefinger und linken Unterarm und musste im Lazarett behandelt werden. Wilhelm Nicolai ist am 30. April 1945 bei Brinkum im Rahmen der Kampfhandlungen gestorben. Die genaueren Todesumstände sind unbekannt.20

Horst Heinicke
In den letzten Kriegstagen kam mit dem erst 17jährigen Horst Heinecke ein weiterer Wehrmachtssoldat gewaltsam in Holtland ums Leben. Horst Heinicke wurde am 1. Mai 1945 von den vorrückenden polnischen Truppen an der Ecke Osterstraße/Holtlander Heuweg nahe der Filsumer Straße wohl mit einem Schuss, der seinen Kopf traf, getötet. Seine Leiche wurde von dem Holtlander Zimmermeister Middent Schilling gefunden. Bei „Nacht und Nebel“ habe man den Toten geholt und im Vorgarten der Familie Schilling begraben.21 Die Dinge aus dem Nachlass, die Erkennungsmarke und eine Brieftasche hatte Middent Schilling an sich genommen, um sie später an die Angehörigen in Leipzig zurückzusenden. Seine Frau hat nach dem Kriegsende mit der Familie in Briefwechsel gestanden.
Die Leiche Horst Heineckes wurde vermutlich aus Anlass der Erstellung einer Kriegsgräberliste im Januar 1954 auf den Holtlander Kirchhof umgebettet. Am 11. November 1955 wurden seiner Mutter die Erkennungsmarke und seine Brieftasche zugeschickt.

Der Malergehilfe und angehende Zimmermann Horst Heinecke wurde am 10. September 1927 als fünftes von sieben Kindern von Helena Martha Heinicke, geb. Kirsche, und Emil Heinicke in Leipzig-Connewitz geboren. Er wohnte dort mit seinen Eltern und Geschwistern in einem Reihenhaus.22 Noch 17jährig wurde er zum 1. Januar 1945 zur Kriegsmarine eingezogen.23 Zuerst war er bei der Marineersatzabteilung Wilhelmshaven-Ebkeriege stationiert, aber schon zum 13. Januar 1945 wechselte er als Rekrut zur Marineersatzabteilung Leer. Seit dem 8. März 1945 war er in der Bootsmannslaufbahn mit dem Dienstgrad Matrose I dem Marineschützenbataillon 366 zugeteilt. Seine Nichte schrieb später, er sei ein „aufgeweckter, lebensfroher Junge gewesen. Als er eingezogen worden ist, sagte er beim Abschied, dass er nicht wiederkommt.“24
Opfer einer Exekution – Ein unbekannter Soldat auf dem Kirchhof in Holtland
In der extrem unübersichtlichen Situation der letzten Kriegswochen kam es in der Region zu mehreren Desertionen. Bekannt ist, dass es vor allem bei den schweren Kämpfen um Potshausen zu „Absetzbewegungen“ gekommen war.25 Einige dieser Flüchtigen wurden aufgegriffen.
In Holtland und später wohl auch in Hesel wurden noch in den allerletzten Kriegstagen zur Aufrechterhaltung der Truppendisziplin „Fliegende Standgerichte“ eingerichtet, die die ergriffenen Deserteure aburteilen sollten. Adolf Hitler hatte diese „Fliegenden Standgerichte“ per „Führererlass“ noch am 9. März 1945 installiert, wodurch nicht nur unter den Soldaten, sondern auch in der Zivilbevölkerung, die gleichfalls von diesem Erlass betroffen war, große Ängste ausgelöst wurden.26
In Holtland wurde noch am 30. April auf dem Kirchhof eine Exekution eines deutschen Wehrmachtssoldaten durchgeführt. Üblicherweise wurden Ermittlungen und Verfahren vom dienstältesten Offizier vor Ort geleitet. Hier dürfte das – wie auch von Zeitzeugen bestätigt – trotz der Anwesenheit des Generalmajors Lindner im Dorf Oberst Gericke als Abschnittskommandeur gewesen sein. Er muss also den Vorsitz der Hauptverhandlung im alten Holtlander Schulgebäude innegehabt und dann die Vollstreckung des Urteils befohlen haben. Ein Gnadenrecht war nicht vorgesehen.27
Zeitzeugen berichten, dass das Verfahren ursprünglich gegen zwei Fahnenflüchtige stattgefunden habe, einen 17jährigen, der aus den Kämpfen um Potshausen geflohen sei und einen etwa 29jährigen Soldaten. Nur der ältere der beiden sei zum Tod verurteilt worden.28
Die Exekution fand auf dem neben der Schule gelegenen Kirchhof beim Glockenturm statt und wurde – so berichten Augenzeugen – durch zwei ältere Offiziere der Einheit von Oberst Gericke durchgeführt. Zwei Hitlerjungen beobachteten durch eine Hecke, wie der Deserteur vor einen Baum am Glockenturm gestellt und auf ihn angelegt wurde. Sie berichteten auch, dass ein zweites Mal durchgeladen und geschossen worden sei. Im Stamm der Eiche neben dem Glockenturm seien noch die Einschüsse in der Baumrinde zu sehen. Der Tote sei im Graben neben dem Glockenturm verscharrt worden.29

Der erschossene Deserteur bleibt leider anonym. Bereits wenige Jahre nach Kriegsende schreibt der Journalist Klaus Meinen aus Leer am 27. August 1950 an die Kirchengemeinde Holtland, er habe „abseits vom Gräberfeld das Grab eines erschossenen Soldaten“ gesehen. Er solle Unteroffizier in einer bei Holtland stationierten Flakbatterie gewesen sein, „aber man kennt noch immer nicht seinen Namen“.30 Andere Zeitzeugen berichteten, es handle sich um einen Marineoffizier, der seinen Posten an der Kleinbahn in Logabirum verlassen und sich anschließend in einer Scheune in Holtland versteckt habe.
Die Kirchengemeinde Holtand hat veranlasst durch den Brief Klaus Meinens und eine sich anschließende Ermahnung des Landeskirchenamts Hannover Ende des Jahres 1950 weitere Erkundigungen im Dorf eingezogen. Aber auch dabei kam man nicht zu Ergebnissen, die eine Identifizierung erlaubt hätten.31 Zeitzeugen wussten demnach, das Opfer sei elternlos und auf dem Weg zu seiner Braut bei Bremen oder Stade gewesen. Ein Bauer habe ihn in seiner Scheune in Holtland gefunden und gemeldet.32 Beim näheren Blick auf diese Erzählungen zeigt sich, dass sich hier die Geschichten der verschiedenen Soldatenopfer in Holtland zu einer Geschichte über den Exekutierten vermischen.
Noch 1951 forderte Klaus Meinen, dass man den Leichnam auf dem Kirchhof exhumieren solle, um seine Identität feststellen zu können. Aber bis heute ist ungeklärt, um wen es sich bei diesem Kriegsopfer handelt.

Für die Ermordung des unbekannten Soldaten in Holtland am 30. April 1945 wurde niemand zur Verantwortung gezogen. Walter Gericke trat am 1. April 1956 als Oberst in die Bundeswehr ein und wurde 1963 zum Generalmajor befördert. Das Stabsgebäude der zentralen Fallschirmjägerschule in Altenstadt trägt seinen Namen. 1965 erhielt er das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.33
Erst 1991 wurde mit einem Urteil des Bundesgerichtshofs festgestellt, dass die Wehrmachtsjustiz als „Terrorjustiz“ anzusehen ist, Wehrmachtsrichter zur Rechenschaft gezogen werden müssen und die Urteile der Wehrmachtsjustiz aufzuheben sind. 1998 beschloss daraufhin der Bundestag das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile, mit dem auch eine Rehabilitierung der Deserteure durch eine Einzelfallprüfung vorgesehen war. 2002 modifizierte man dieses Gesetz im Sinne einer pauschalen Aufhebung der Urteile der Militärgerichte gegen Deserteure der Wehrmacht.34
Die Gräber der jungen gefallenen Soldaten auf dem Holtlander Kirchhof werden weiterhin gepflegt. Als Erinnerung an den sinnlosen Kriegstod sind sie zugleich auch fortdauernde Mahnmale für den Frieden. Die Kirchengemeinde Holtland ehrt mit der Errichtung der Gedenktafel diese Kriegsopfer, und setzt zugleich ein Zeichen des Pazifismus.
Dr. Paul Weßels
(Red.: M.H. / H.S.)
- Enno Eimers, Kleine Geschichte der Stadt Leer, Leer 1993, S. 110. Seit 1970 und verstärkt seit den 1980er Jahren gibt es eine Reihe von kleineren Publikationen in den Heimatbeilagen der ostfriesischen Tageszeitungen mit Beiträgen zum Kriegsende in einzelnen ostfriesischen Orten, neben Emden etwa auch zu Leer, Loga Oldersum oder Jemgum. Einen Überblick gibt der im Emder Jahrbuch veröffentlichte Vortrag von Bernhard Parisius „Das Kriegsende in Ostfriesland 1945“, gehalten am 4. März 2005 bei einer Gedenkveranstaltung in der Martin-Luther-Kirche in Emden (Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands, Bd. 84, 2004 (2005), S.138–150). Grundlegend für die Beschreibung der militärischen Situation im Nordwesten in den letzten Kriegsmonaten ist die Darstellung von Günter Wegmann über „Das Kriegsende zwischen Ems und Weser 1945“ (Oldenburg 2000). Von besonderer Bedeutung für die Situation in Brinkum und Holtland sind die Publikationen von Dieter Simon, Das Kriegsende 1945 in Leer, Leer 1995 und von Hermann Adams, Das Kriegsende im nördlichen und westlichen Overledingerland und dem weiteren Ostfriesland, Westoverledingen 2021. [↩]
- Vgl. das Kapitel über die Kriegstoten auf dem Holtlander Kirchhof. [↩] [↩]
- Dieter Simon, Das Kriegsende 1945 in Leer, Leer 1995, S. 46–52. [↩]
- Wegmann, S. 196. [↩]
- Adams, S. 151. Archiv der Kirchengemeinde Holtland (AKH), Akte Gefallenengräber, Schreiben von H. Venema, Stadtskanal, vom 14. Mai 1984. [↩]
- Wegmann, S. 192. [↩]
- Wegmann, S. 212–213. [↩]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Gericke, abgerufen am 23.10.2024; Veit Scherzer, Die Ritterkreuzträger. Die Inhaber des Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes 1939-1945, Ranis (u.a) 2005, S. 309. [↩]
- Wegmann, S. 270–271, 318. [↩]
- Wegmann, S. 319, Rudolf Nassua, Ostfriesland 1945–1949. Besatzung, Neuanfang, Aurich 2005, S. 97–98. [↩]
- Paul Weßels, Holtland. „Das wohlgebaute grosse Kirchdorf …“. Beiträge zur Geschichte eines Kirchspiels im Landkreis Leer, Oldenburg 1995, S. 352–353. [↩]
- Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Aurich (NLA AU), Rep. 250 Nr. 43476; https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Lindner_(General), abgerufen am 23.10.2024; Scherzer, S. 482. Wolfgang Keilig, Die Generale des Heeres, Friedberg (Dorheim), S. 206. [↩]
- Weßels, S. 351. [↩]
- Ebd., S. 355. [↩]
- Ebd. [↩]
- Ebd., S. 358. [↩]
- NLA AU, Dep. 202, Nr. 271; Bundesarchiv Berlin, B 563-1 Kartei/S-3456/141. (Erkennungsmarke – 80 – 3./ Flak Rgt. 26 [↩]
- Heye Immega, Mein Vaterhaus, Holtland 2019, S. 78 f. [↩]
- Bundesarchiv Berlin, Bundesarchiv Berlin, 563-1, Kartei/N-536/195, Erkennungsmarke – 14 – 5./ Res. Flakbatr. Res. Flak Abt. 322. [↩]
- NLA AU, Dep. 202, Nr. 271; Bundesarchiv Berlin, 563-1, Kartei/N-536/195. [↩]
- AKH, Akte Gefallenengräber, Schreiben der Nichte, Frau Wermes, an Pastor Grundmann, Holtland, vom 18. 02. 2017. [↩]
- NLA AU, Dep. 202, Nr. 271. [↩]
- Marinestammrollennummer N 326/45D. [↩]
- AKH, Akte Gefallenengräber; Bundesarchiv Berlin, B 563-1 Kartei/H-2030/15; Bundesarchiv Berlin, Pers 17/SPA-H/2030/Heinicke, Horst (*10.09.1927). [↩]
- Weßels, S. 352-353, Aussage des Zeitzeugen Richard Janssen nach Erinnerung von Pastor Grundmann, Holtland. [↩]
- Peter Kalmbach, Fliegende Standgerichte, in: Vierteljahrsschriften für Zeitgeschichte, 2021, 69, Heft 2, S. 218–220. https://de.wikipedia.org/wiki/Standgericht#cite_note-8, abgerufen am 23.10.2024. [↩]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Gnade_(Recht)#20._Jahrhundert, abgerufen am 23.10.2024. [↩]
- Laut der Aussage anderer Zeitzeugen gab es in Holtland zwei Exekutionen. Das erscheint aber angesichts der Erzählungen und der vorhandenen Gräber eher unwahrscheinlich. [↩]
- Weßels, Holtland, S. 352–353. [↩]
- AKH, Akte Gefallenengräber, Schreiben von Klaus Meinen an Kirchengemeinde Holtland vom 27. August 1950. [↩]
- AKH, Akte Gefallenengräber. [↩]
- AKH, Akte Gefallenengräber, Soldatengräber, Schreiben des Kirchenvorstands an das Ev.-lutherische Landeskirchenamt Hannover vom 24. November 1950 und an die Gemeindeverwaltung Carlshafen vom 24. April 1951. Schreiben von Pastor H. Gerdes an Günter Fahle, 13.12.1988. In diesem Schreiben verwechselt Pastor Gerdes den Exekutierten mit dem Soldaten Horst Heinecke, der am 1. Mai 1945 in den Kämpfen bei Holtland ums Leben gekommen ist. [↩]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Gericke, abgerufen am 23.10.2024. [↩]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Fahnenflucht#Zeit_des_Nationalsozialismus, abgerufen am 26.10.2024. [↩]
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Paul Weßels (8. Mai 2025). Erschossen oder exekutiert – Kriegsende und Kriegsopfer in Holtland und Brinkum. Blog für ost-friesische Geschichte. Abgerufen am 21. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13w45