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Ostfriesische Geschichte anschaulich – Der Stammbaum der Cirksena im Rathaus zu Esens

Ein Gastbeitrag von Dr. Hajo van Lengen [†]

Abb. 1: Dr. Hajo van Lengen und die Diplomrestauratorin Anja Brigitta Jacobsen M.A. vor der Stamm- und Wappentafel der Cirksena im Rathaus in Esens 2016 (Foto: Detlef Kiesé)

Der fast drei Meter hohe Stammbaum des 1744 ausgestorbenen ostfriesischen Fürstenhauses der Cirksena – der heute im Rathaus der Stadt Esens öffentlich zugänglich ist – stammt aus der ehemaligen Burg zu Esens, der Residenz der Cirksena als Herren des Harlingerlandes, die sie 1600 geworden waren. Er hatte in der Schlosskapelle, wohl unter einem Gewölbebogen, gehangen.1 Er ist mit den Namen und Wappen sowie Lebensdaten der Familienmitglieder auf Leinen gemalt worden. Das Gemälde hat im Laufe der Zeiten nach dem Ende der Fürstenzeit arg gelitten und ist 2016 so weit wie möglich restauriert worden. Vieles ist trotzdem nicht mehr klar oder gar nicht zu entziffern.2

Dieses Großgemälde ist in seiner Darstellung ein Zeugnis stolzer Selbstdarstellung des Fürstenhauses aus der Barockzeit.3 Seine nähere Datierung ergibt sich aus den aufwendigen Wappendarstellungen links und rechts zu Füßen des Stammbaumes.

Abb. 2: Das Wappen des ostfriesischen Fürstenhauses (links) und das Wappen des Fürstenhauses von Oettingen (rechts) (Foto: Heiko Suhr, Ostfriesische Landschaft)

Die beiden größeren Wappen links sind 1. das Wappen des ostfriesischen Fürstenhauses und 2. das Wappen des Fürstenhauses von Oettingen; über beiden schwebt das Wappen der Herzöge von Württemberg. Die beiden Wappen nebeneinander beziehen sich 1. auf den Fürsten Christian Eberhard von Ostfriesland (1665–1708) und 2. auf seine Ehefrau Eberhardine Sophie von Oettingen (1666–1700);4 das 3. Wappen darüber ist das ihrer beiden Mütter, Christine Charlotte und Christine Friederike, Töchter des Herzogs Eberhard III. von Württemberg.

Abb. 3: Christian Eberhard (1665-1708), 1690-1708 Fürst von Ostfriesland (Bildarchiv der Ostfriesischen Landschaft, Foto: Hans H. Weißer)

Zudem hat Christian Eberhard nicht nur zur Ausgewogenheit der Darstellung, sondern auch zum rechten Verständnis seines hohen Ranges als Gegenstück auf der rechten Seite ebenfalls drei große Wappen abbilden lassen, und zwar von weiteren hochadligen weiblichen Vorfahren seinerseits, mit denen sich das eigene Haus aufwerten ließ: Das 1. Wappen hier links ist das seiner Großmutter, der Landgräfin Juliane von Hessen, das 2. rechts daneben ist das Wappen seiner Urgroßmutter, der Herzogin Anna von Holstein-Gottorp, und als 3. Wappen darüber, mit groß heraus gestellter Königskrone, das seiner Ururgroßmutter, der Prinzessin Catharina von Schweden.

Diesen Stammbaum hat demnach Fürst Christian Eberhard nach seinem Regierungsantritt 1690 und vor dem Tode seiner Frau 1700 aufstellen lassen, einschließlich der folgenden Generation ihrer Kinderschar.

Der verzweigte Stammbaum erwächst aus einer auf der Seite liegenden und in Ritterrüstung des Hochadels der Zeit um 1700 gekleideten Gestalt in die Höhe. Vorbild dafür ist ein beliebtes sakrales Bildmotiv des Mittelalters, die Wurzel Jesse, auch Jessebaum genannt, der die Abstammung Jesu Christi von Jesse, dem Vater König Davids, als Lebensbaum darstellt. Der Anfang dieses profanen Stammbaumes der Cirksena steht dagegen am Beginn der ostfriesischen Häuptlingszeit um 1350. Mit dem Ahn Edzard setzte die Herrschaft der Cirksena als Häuptlinge zu Greetsiel und Umgebung am südlichen Ausgang der Leybucht ein.

Abb. 4: Ahnenfigur an der Wurzel des Stammbaums (Foto: Heiko Suhr, Ostfriesische Landschaft)

In der 5. Generation wurden die Cirksena mit dem Landeshäuptling Ulrich 1464 Reichsgrafen in Ostfriesland. In dem rechten Feld der fünften Reihe finden wir ihn mit seiner ersten und zweiten Ehefrau verzeichnet, darüber sein Cirksena-Wappen, die Harpyie („Jungfrauenadler“), in der Mitte zwischen dem Bären-Wappen seiner ersten Frau Folke von Esens und Stedesdorf links und dem Löwen-Wappen seiner zweiten Frau Theda Ukena von Leer rechts. Da die erste Ehe kinderlos blieb, verzichtete Ulrich auf das Erbe Folkes zugunsten von deren Tochter aus ihrer ersten Ehe, zumal sie mit seinem Neffen Sibo, seinem engsten Berater und Helfer, verheiratet war. Damit gab Ulrich aber seine unmittelbare Herrschaft über Esens mit dem Harlingerland aus der Hand. Erst vier Generationen weiter gelang es dem Grafen Enno III. im Jahr 1600, diesen Teil Ostfrieslands für sein Haus zurückzugewinnen.

Abb. 5: Ausschnitt aus der Stamm- und Wappentafel (Foto: Heiko Suhr, Ostfriesische Landschaft)

Was das Gesamtbild des Stammbaumes beeinträchtigt, sind zusätzlich eingefügte – ja geradezu eingezwängte – Nachträge, die vor allem von Fürst Christian Eberhard veranlasst worden waren. Sie betreffen zwei männliche Seitenlinien der Cirksena, auf die hinzuweisen ihm wohl unverzichtbar erschienen war, obwohl sie katholisch waren. Sie betrafen 1. die Nachkommen des Bruders von Enno II., Graf Johanns I., und 2. die Nachkommen des Bruders von Enno III., Graf Johanns III. In der Reihe der 7. Generation befindet sich Graf Johann I., genannt von Falkenburg (bei Maastricht), an dritter Stelle, rechts neben Graf Enno II. Er war verheiratet mit einer unehelichen Tochter Kaiser Maximilians namens Dorothea von Österreich, Frau zu Falkenburg etc. Das rautenförmige rote Wappen mit dem hellen Mittelbalken steht für sie. Das Feld für den Sohn der beiden, Graf Maximilian von Falkenburg, ist in der Reihe der 8. Generation rechts alleinstehend nachgetragen worden. Seine drei Töchter haben ihre Felder in der Reihe der 9. Generation etwas abgesetzt ganz rechts am Rand bekommen. Am wichtigsten war dem Fürsten davon das mittlere Feld für Dorothea, weil sie mit dem Grafen Jacques Tserclaes von Tilly, dem Bruder des im 30jährigen Krieg berühmt gewordenen kaiserlichen Generals Tilly und damit Anverwandten des ostfriesischen Fürstenhauses, verheiratet war, den seine beiden Neffen beerbt hatten. Das Wappen von Tilly, den aufsteigenden silbernen Löwen in rotem Feld, für Dorotheas Ehemann, ist hier noch deutlich zu erkennen.

Abb. 6: Ausschnitt aus der Stamm- und Wappentafel (Foto: Heiko Suhr, Ostfriesische Landschaft)

Die zweite Seitenlinie geht von Graf Johann III. von Ostfriesland aus, Bruder Graf Ennos III. Diese beiden spielten für den Erwerb des Harlingerlandes mit Esens als Residenz durch das ostfriesische Grafenhaus die entscheidende Rolle.

Mit dem Tod des letzten ostfriesischen Herren des Harlingerlandes, Balthasar von Esens,5 1540, fiel diese Herrschaft über dessen mit dem Grafen von Rietberg verheirateten Schwester Onna als Erbin an ihre Nachkommen aus diesem auswärtigen Grafenhaus. Ihrem Rietberger Sohn folgten zwei Enkelinnen, von denen die ältere, Armgard, trotz zweier Ehen kinderlos blieb. Die jüngere, Walpurgis, erkor sich nun Graf Enno III. von Ostfriesland zur Ehefrau, so dass nicht nur der Rückerwerb des Harlingerlandes, sondern auch noch der Zuerwerb der Grafschaft Rietberg für die Cirksena zu erwarten stand.

Doch es drohte dann umgekehrt zu laufen, als Walpurgis dem ostfriesischen Grafenhaus „nur“ zwei Töchter, Sabina Catharina und Agnes, gebar. Denn es stand damit zu befürchten, dass durch die Eheschließungen der beiden nicht nur Rietberg, sondern auch noch Ostfriesland den Cirksena verloren ging.6 Es bedurfte also mindestens eines männlichen Erbens. Nachdem Walpurgis verstorben war, heiratete Enno III. ein zweites Mal, diesmal die Tochter Anna des Herzogs von Holstein-Gottorp. Sie gebar ihm – neben zwei Töchtern – vier Söhne, von denen der letzte, Graf Ulrich II., am längsten überlebte und das Grafen-, dann Fürstenhaus fortsetzte.

Abb. 7: Gesamtansicht der Stamm- und Wappentafel im Rathaus Esens nach der Restaurierung 2016 (Foto: Detlef Kiesé)

Wie aber waren die ostfriesisch-rietbergischen Erbansprüche seiner beiden Töchter aus erster Ehe für das ostfriesische Haus zu sichern? Mit dem zwischen Enno und seinen Töchtern 1600 abgeschlossenen Berumer Vergleich wurde das Problem gelöst: Die ältere Tochter, Sabina Catharina, bekam Rietberg, der jüngeren, Agnes, wurde ihr Anspruch auf Ostfriesland (vgl. Anm. 6) von Enno III. abgekauft. Um aber auch Rietberg nicht ganz für die Cirksena zu verlieren, heiratete Ennos Bruder Johann II., Graf von Ostfriesland, seine Nichte Sabina Catharina! Somit herrschte in Rietberg fortan eine Linie des ostfriesischen Grafenhauses. Johann trat zu diesem Zweck zum katholischen Glauben über, und diese Eheschließung bekam dann auch den Segen des Papstes.

In der Reihe der 9. Generation befindet sich in der Mitte das Feld mit den Namen von Enno III. und seiner beiden Frauen sowie ihre drei Wappen: das der Cirksena mit der Harpyie in der Mitte, das der Rietberger mit dem goldenen Adler im roten Feld links und das von Holstein (silbernes Nesselblatt in rotem Feld der Grafen von Schaumburg) rechts (auch unten rechts in das große Wappen aufgenommen). Das Feld von Johann III. und seiner Frau mit deren Cirksena-Wappen (zweimal die Harpyien) befindet sich zwei Felder weiter (das achte Feld in dieser Reihe). Von diesem Feld aus sind dann die Nachkommen der Rietberger Linie der Cirksena der 10. bis 12. Generation mit dem Rietberger Adler-Wappen in die ursprünglich hier noch freie Fläche rechts eingefügt worden. 1690 ist diese Linie im Mannesstamm erloschen. Die verbliebene Erbin heiratete 1699 einen Grafen von Kaunitz.

Abb. 8: Ausschnitt aus der Stamm- und Wappentafel mit kaum mehr lesbaren Angaben zu Fürst Christian Eberhard und seiner Frau (Foto: Heiko Suhr, Ostfriesische Landschaft)

Fürst Christian Eberhard selbst mit seiner Frau gehört der 12. Generation auf dieser Stammtafel an. Ihr Namensschild mit beider Wappen darüber, überwiegend nicht mehr zu entziffern, ist das fünfte Feld von links in der leicht nach rechts gebogenen Reihe unter der letzten langen Reihe von 12 Feldern für die Nachkommen der 13. Generation. Die beiden Felder unmittelbar links neben dem von Christian Eberhard und Frau – das dritte und vierte von links – verzeichnen seine beiden Schwestern, die beiden Felder links außen – das erste und zweite – seine beiden Kusinen. Die beiden Felder des leichten Bogens außen rechts – das sechste und siebente – verzeichnen seine beiden Vettern, von denen der zweite (rechts außen) 1709 seine Tochter Marie Charlotte ehelichte, die 1710 wiederum eine Tochter, Christiane Louise (im kleinen Feld darüber verzeichnet), gebar. Fürst Christian Eberhard war bereits 1708 verstorben.

Abb. 9: Georg Albrecht (1690-1734), 1708-1734 Fürst von Ostfriesland (Bildarchiv der Ostfriesischen Landschaft, Foto: Hans H. Weißer)

Diese Nachträge hat der Sohn und Nachfolger in der 13. Generation, Fürst Georg Albrecht,7 noch einfügen lassen, ebenso in dem für ihn in der langen Reihe seiner Geschwister der 13. Generation stehenden fünften Feld von links den nicht mehr lesbaren Namen, aber das noch erkennbare Wappen seiner ersten Frau, der 1709 geheirateten Prinzessin Christine Louise von Nassau, desgleichen die zwei kleinen Felder mit Cirksena-Wappen für die ersten beiden ihrer früh verstorbenen vier Kinder aus dieser Ehe am Beginn der 14. Generation darüber.

Weiter wurde der Stammbaum nicht geführt. Damit fehlt hier auch der 1716 geborene und einzig überlebende Sohn und Erbe Karl Edzard, mit dessen Tod 1744 das ostfriesische Fürstenhaus ausstarb und Ostfriesland mit dem Harlingerland an Preußen fiel, dessen König Friedrich II. (der Große) nun Fürst von Ostfriesland und Herr des Harlingerlandes zu Esens, Stedesdorf und Wittmund wurde. Die Nachträge sind demnach in den Jahren 1709/1710 bis 1711/1712 erfolgt.

Dr. Hajo van Lengen
(Red.: Hanke Immega / H.S. / M.H.)

  1. Der Beitrag wurde von Hajo van Lengen im Jahr 2017 auf Anfrage von Axel Heinze für die Stadt Esens verfasst und war wohl für einen Stadtführer vorgesehen. Der Text blieb aber bisher unveröffentlicht. []
  2. Vgl. Imke Oltmanns, Cirksena-Stammbaum hängt wieder im Rathaus, in: Ostfriesen-Zeitung, 08.04.2016. Vgl. auch Axel Heinze, Der Stammbaum der Cirksena in Esens, in: Friesische Heimat, 14.10.201; Detlef Kiesé, Stammbaum eines Selbstdarstellers glänzt wieder, in: Anzeiger für Harlingerland, 07.04.2016. []
  3. Vgl. allgemein zum Wappen der Cirksena Hajo van Lengen, Das Wappen des ostfriesischen Fürstenhauses Cirksena, in: Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands 95, 2015, S. 66–99 bzw. ders.,  Das Wappen des ostfriesischen Fürstenhauses Cirksena, in: Paul Weßels (Hrsg.), Die ostfriesischen Wappen. Das Fürstenwappen und das Landschaftswappen (Hefte zur ostfriesischen Kulturgeschichte; 6), Aurich, 2018, S. 8–41. []
  4. Vgl. https://bibliothek.ostfriesischelandschaft.de/cirksena/christian-eberhard/ [10.04.2025]. []
  5. Zu Balthasar forscht seit einigen Jahren der Lüneburger Geschichtslehrer Titus Blecken; vgl. https://www.kultur-in-emden.de/2024/03/13/in-jahrelanger-kleinarbeit-erforscht/ [10.04.2025]. []
  6. Anmerkung der Redaktion: Der Anspruch der Töchter Ennos III. aus seiner ersten Ehe mit Walpurgis erstreckte sich wohl nur auf das mütterliche Erbe, Rietberg und das Harlingerland. Die Kaufsumme, die im Berumer Vergleich vereinbart wurde, bezog sich entsprechend nur auf das Harlingerland. Ein Jahr vor diesem Vertrag war Enno III. aus zweiter Ehe bereits ein männlicher Erbe geboren worden, der zwar 1612 sterben sollte, aber weitere Kinder waren aus dieser Ehe zu erwarten und zwei Söhne sollten in der Folge auch das Erbe der Grafschaft antreten. Ansonsten müssten auch die vier noch lebenden, aber allesamt noch unverheirateten Brüder Ennos III. vor dessen Töchtern in Ostfriesland erbberechtigt gewesen sein; vgl. Tileman Dothias Wiarda, Ostfriesische Geschichte, Bd. 3, Aurich 1793, S. 351–354 (12. Buch, 2. Abschnitt, § 1) sowie Heinrich Schmidt, Politische Geschichte Ostfrieslands, Leer 1975, S. 255. []
  7. https://bibliothek.ostfriesischelandschaft.de/cirksena/georg-albrecht/ [10.04.2025]. []

OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Gastautor (18. April 2025). Ostfriesische Geschichte anschaulich – Der Stammbaum der Cirksena im Rathaus zu Esens. Blog für ost-friesische Geschichte. Abgerufen am 22. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13rv6


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